Berliner Morgenpost vom 16.05.2010: Grüne feilen an ihrer Wahlkampfstrategie

In Berlin befinden sich die Grünen angesichts von Umfragewerten von mehr als 20 Prozent Zustimmung inzwischen auf Augenhöhe mit SPD und CDU. Insgeheim arbeitet man in der Partei bereits an einer Strategie, bei der Abgeordnetenhauswahl 2011 sogar den Angriff auf das Rote Rathaus zu wagen.

Auch für erfahrene Spitzenpolitiker wie die Grünen-Fraktionschefin im Bundestag, Renate Künast, gibt es noch etwas Neues zu erleben. Am Sonntag hielt sie in der Charité die Festrede zur Vergabe der Ehrendoktorwürde unter anderem an den Chemienobelpreisträger Gerhard Ertl. Die Grünen erzählen diese Geschichte zurzeit gern, unterstreicht sie doch, dass die Partei in immer breitere Gesellschaftsschichten vorgedrungen ist. Künast in der Charité, der Präsident der Berliner Industrie- und Handelskammer, Eric Schweitzer, kürzlich als Gastredner auf dem Grünen-Parteitag, beste Umfragewerte und die Ergebnisse zur Bundestags-, Europa- und zuletzt der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen haben die Grünen in Berlin selbstbewusst gemacht.

Zumal in der Berliner Politik derzeit ein regelrechtes Wettrennen im Gange ist, wer die Meinungsführerschaft im Umwelt- und Klimaschutz für sich in Anspruch nehmen kann. Politisches Terrain, das die Hauptstadt-Grünen selbstverständlich für sich verbuchen. Ob im Streit um das überfällige Klimaschutzgesetz oder den Ausbau Berlins zur Modellstadt der „green economy“ – überall sehen sich die Grünen vorn. In Berlin befinden sie sich angesichts von Umfragewerten von mehr als 20 Prozent Zustimmung inzwischen auf Augenhöhe mit SPD und CDU.

Angriff auf das Rote Rathaus

Insgeheim arbeiten Parteistrategen an einer Strategie, bei der Abgeordnetenhauswahl 2011 sogar den Angriff auf das Rote Rathaus zu wagen. Jenseits von Rot-Rot sprechen immer weniger von einer möglichen schwarz-grünen Machtoption, um stattdessen eine grün-schwarze ins Feld zu führen. Jüngsten Umfragen zufolge hat die Partei die CDU bereits überholt.

Das mögliche Szenario für die kommenden Monate steht. Der „Graswurzelwahlkampf“ ist längst im Gange. Auf allen Ebenen befinden sich die Grünen auf Kümmerertour. Fraktionschef Volker Ratzmann hat sich des Themas Wirtschaft angenommen. Seit einem Jahr besucht Ratzmann die Unternehmen der Stadt. Die Gräben, die er überwinden wolle, gibt es längst nicht mehr, antwortete ihm ein Berliner Firmenchef neulich. Bei Daimler, Siemens oder der Berliner Stadtreinigung haben die Firmenchefs längst erkannt, dass Klimaschutz angesichts steigender Energiepreise eine Chance bietet.

Die Stärkung der Wirtschaftskraft durch die „green economy“ ist der eine Schwerpunkt grüner Politik. Der zweite betrifft das soziale Zusammenleben in der Stadt. Die mehr als vier Milliarden Euro, die jährlich ins Sozialwesen fließen, sollen effizienter verteilt werden, fordern die Grünen. Zudem soll der soziale Wohnungsbau neu ausgerichtet werden. Diesen zweiten Schwerpunkt grüner Wahlkampfstrategie hat Co-Fraktionschefin Ramona Pop übernommen. „Bislang verweigert Rot-Rot die Diskussion darüber, wie wir es schaffen, landeseigene Wohnungen mit sozialverträglichen Mieten anzubieten“, sagt die 32-Jährige.

Und schließlich haben sich die Berliner Grünen den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) vorgenommen. Ein neuer Politikstil müsse her, so ihre Forderung. Die Berliner sollen mehr an den politischen Diskussionen beteiligt werden. Statt wie Wowereit im Fall seiner geplanten Kunsthalle mitunter selbstherrlich Entscheidungen zu treffen, die dann in der eigenen Partei gegen Widerstände durchgepeitscht werden müssen, kündigen die Grünen mehr Transparenz an. Wenn sie denn in die Regierung kommen.

Das Wahlkampfprogramm soll Fraktionschef Ratzmann der Partei auf der Delegiertenkonferenz am 5. Juni vorstellen.

Das gemeinsame Ziel eint Partei und Fraktion. Interne, teilweise persönlich verletzende Streitigkeiten gibt es in der Fraktion zurzeit nicht. Die Kreuzberger Abteilung mit den grünen Fundamentalisten rund um Dirk Behrendt und Heidi Kosche ist befriedet, seitdem die Fraktionsspitze beschlossen hat, zuerst auf eine rot-grüne Regierungskoalition zu setzen und die Avancen an die CDU erst einmal zurückzustellen. Als sich Behrendt im Fraktionsvorstand der Zusammenarbeit entzog, wurde er kurzerhand wieder ins Glied zurückgeschickt. Auch er ordnet sich jetzt dem Ziel „Wahlsieg 2011“ unter.

Lehren aus der Vergangenheit

Die für die sonst so diskutierfreudigen Grünen ungewohnte Einigkeit ist auch eine Lehre aus der Vergangenheit. Die Erinnerung an die vergangenen beiden Koalitionsverhandlungen schmerzt bis heute. Nachdem die Grünen im Jahr 2001 und dann erneut im Jahr 2006 hätten mitregieren können und auch zur Koalition bereit waren, hatte Wowereit am Ende jeweils die PDS (2001) und dann Die Linke (2006) vorgezogen. Der Stachel sitzt bis heute tief. Umso wichtiger ist es daher für die Grünen, im kommenden Jahr endlich auf die Regierungsbank zu wechseln.

Die politische Ausrichtung steht allerdings unter dem Vorbehalt der desaströsen Berliner Finanzlage. Argwöhnisch verfolgt die Partei derzeit, welche Pflöcke die rot-rote Regierung noch vor der Wahl einschlägt und welche Ausgaben des Landes langfristig festgelegt werden. „Es kann schließlich sein, dass wir den Laden übernehmen“, sagt der Finanzexperte der Partei, Jochen Esser. Er hat in bester Sarrazin-Manier der Fraktion einen Folienvortrag gehalten, in dem er die knappen finanziellen Spielräume der Stadt erläuterte. Nur bei strikter Ausgabendeckelung auf dem heutigen Niveau besteht demnach eine Chance, im Jahr 2017 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, lautete sein Fazit.

Sollten die Grünen in den Umfragen weiter in Sichtweite von CDU und SPD bleiben, würden sie im Herbst eine eigene Spitzenkandidatin präsentieren – kein Zweifel besteht inzwischen daran, dass das Renate Künast sein wird.

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