Erschienen in DIE WELT vom 8. Juni 2019
In der schrillen Debatte um Enteignungen sollten wir uns auf das Grundgesetz besinnen. Dort stehen zwei Prinzipien nebeneinander: der Schutz des Eigentums und seine Sozialpflichtigkeit.
Eigentum ermöglicht Märkte: Nur mit sicheren Eigentumsrechten kann sich ein florierender und fairer Handel entwickeln, können wir die ökonomischen Vorteile der Arbeitsteilung nutzen. Eigentum stärkt Motivation und Innovation: Wo Eigentum sicher ist, legen Menschen sich ins Zeug, entdecken Neues, wagen sich voran. Gerade dieser Innovationskraft, diesem Unternehmergeist hat unser Land seinen Wohlstand zu verdanken. Nicht zuletzt ist Eigentum für den Einzelnen auch Freiheit, gerade im Verhältnis zum Staat. Wo alle Betriebe und Druckerpressen in der Hand des Staates sind, können Freiheit und Demokratie sich nicht entfalten. Aus guten Gründen ist deswegen der Schutz des privaten Eigentums in unserem Grundgesetz festgeschrieben. Dort heißt es in Artikel 14: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.“
In der sozialen Marktwirtschaft ist Eigentum jedoch kein Blankoscheck. Im Gegenteil: Die soziale Marktwirtschaft ist gerade deshalb ein Erfolgsmodell, weil sie mit dem Eigentum konsequent eine Orientierung am Gemeinwohl verknüpft. Denn Eigentum motiviert; aber es motiviert eben auch zu Exzessen. Nicht zuletzt in der Finanzkrise begegneten uns Beispiele davon, wie starke Anreize auch zu eklatantem Fehlverhalten und unternehmerischer Kurzsichtigkeit führen können. Gleiches gilt bei der Übernutzung der ökologischen Ressourcen und der Klimakatastrophe. Wenn ein Norbert Lammert feststellt, dass solche Zustände unsere Wirtschaftsordnung erodieren, kann man ihm nur zustimmen.
Und schließlich ist privates Eigentum zwar einerseits eine Säule der freiheitlichen Demokratie, aber andererseits können starke Vermögenskonzentration und die damit einhergehenden sozialen Verwerfungen die Demokratie auch bedrohen. Wo Eigentumsrechte nur noch einigen wenigen nutzen, ist die soziale Marktwirtschaft mitsamt ihrer demokratischen Akzeptanz in Gefahr. Aus guten Gründen ist deswegen die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ebenfalls in unserem Grundgesetz festgeschrieben; im selben Artikel 14 heißt es „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Zwischen diesen beiden grundgesetzlichen Prinzipien, dem Schutz des Eigentums und seiner gleichzeitigen Verpflichtung auf das Wohl der Allgemeinheit, spielt sich in unserem Land derzeit eine wichtige Debatte ab. Auslöser dieser Debatte ist die verbreitete Wahrnehmung, dass unser Gemeinwesen nicht mehr ausreichend in der Lage sei, mancher ökologischer und sozialer Probleme Herr zu werden. Von der Wohnungskrise in deutschen Städten bis hin zu wachsender Ungleichheit, der Bekämpfung der Klimakrise oder globalen Unternehmen, die keine Steuern mehr zahlen.
Manche meinen, eine Enteignung großer Konzerne könne Linderung verschaffen. Sei es bei Berliner Wohnungsunternehmen oder bayerischen Automobilkonzernen – mit dem scheinbaren Tabubruch lässt sich zumindest schnell ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit erzeugen. Das liegt auch daran, dass dem Tabubruch schnell ein Sturm der Empörung entgegenweht. Wer Eigentumsrechte diskutieren will, bedrohe angeblich je nach Einzelfall die demokratische Grundordnung, das Grundgesetz oder die soziale Marktwirtschaft.
Nun wird in dieser Debatte auf beiden Seiten heillos übertrieben. Natürlich sind pauschale und willkürliche Enteignungen kein Rezept zur Lösung sozialer Probleme. Der Annahme, dass sich hinter dem erregenden Tabubruch tatsächlich auch eine praktikable Lösung verbirgt, wohnt ein hanebüchener Populismus inne. Gerade deswegen sollte man das Wort Enteignung nicht leichtfertig in den Mund nehmen. Andererseits ist es aber legitim, sich zu fragen, ob und wie wir der Sozialverpflichtung des Eigentums Geltung verschaffen. Wer so tut, als sei der Verweis auf die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ein Bekenntnis zum Kommunismus, der erweist dem Grundgesetz und dem demokratischen Diskurs einen Bärendienst.
Denn im Gegensatz zu den schrillen Tönen der Debatte positioniert sich unser Grundgesetz zwischen diesen Polen genau in der Mitte. Es stellt beide Prinzipien, den Schutz des Eigentums und seine Sozialpflichtigkeit, nebeneinander. Gerade dieser Ausgleich ist Ausdruck der sozialen Marktwirtschaft. Er wird eingefasst durch die freiheitlich-demokratische Grundordnung: Wir als Bürger müssen uns — in dem Rahmen, den uns das Grundgesetz vorgibt — mit demokratischen Mitteln darauf einigen, welche Eigentumsrechte und welche dazugehörigen Schranken der Allgemeinheit dienen.
In der Realität unserer Wirtschaftsordnung, jenseits des Schwarz-Weiß der polarisierten Debatte, zeigen sich viele Zwischentöne. Gerade in der besonders diffizilen Frage des Eigentums an unvermehrbarem Grund und Boden hat die Bundesrepublik schon bemerkenswerte Kompromisse hervorgebracht. Wenn öffentliche Baumaßnahmen es erfordern, enteignen Behörden im großen Stil Grundbesitzer — ganz selbstverständlich und mit rechtsstaatlichen Mitteln. In angespannten Wohnungsmärkten können Gemeinden Vorkaufsrechte geltend machen. Auf Brachen können sie mit Baugeboten unter Androhung von Enteignung dafür sorgen, dass Flächen nicht unbebaut bleiben oder sogar zu spekulativer Spielmasse werden, während nebenan Wohnungsmangel herrscht. Nicht zuletzt werden Mieten, wenn auch zu zaghaft, durch Bundesgesetzgebung reguliert.
Innerhalb des grundgesetzlichen Rahmens besteht also erheblicher Spielraum, Eigentumsrechte so auszugestalten, dass der Sozialpflichtigkeit des Eigentums zu angemessener Geltung verholfen wird. In Anbetracht der Wohnungs- und Mietenkrise in vielen deutschen Städten wird die Diskussion über den richtigen Ausgleich zwischen Privat- und Allgemeininteresse in der Bodenpolitik sicher weitergehen. Das ist auch vonnöten: Denn gerade in der Boden- und Wohnungspolitik, in der es um Existenzfragen geht, muss die Politik handlungsfähig sein und bleiben. Das bedeutet für Regierungen wahrlich nicht, Unterschriften für Volksentscheide zu sammeln. Dazu gehört aber sicher, mit globalen Konzernen auf Augenhöhe diskutieren und verhandeln zu können – mit dem Wissen um die Gestaltungsmacht, die unser Grundgesetz eröffnet.
Gerade weil die demokratische Akzeptanz des Eigentums so wichtig ist, darf seine Verpflichtung auf das Allgemeinwohl keine hohle Phrase sein. Eine exzellente Grundlage für diesen Auftrag haben wir in unserem Grundgesetz, das jüngst 70 Jahre alt wurde. Nutzen wir sie zum Wohle aller.