Sie war zehn, als sie aus Rumänien nach Deutschland kam. Heute ist Ramona Pop Berlins Bürgermeisterin und Wirtschaftssenatorin. Sie erklärt, wie die Stadt wachsen und gedeihen soll.
BerlinSie gehört zum Realo-Flügel der Grünen und hat es jetzt mit der Realitäten der Berliner Wirtschaft zu tun. Ramona Pop, die sich selbst als Zahlenmensch bezeichnet, muss als Wirtschaftssenatorin und Bürgermeisterin die Herausforderungen der wachsenden Stadt mit den ökologischen Kernanliegen ihrer Partei in Einklang bringen. Sie tut das unaufgeregt, pragmatisch und eher leise statt laut. Täglich muss sie ihn praktizieren, de Spagat zwischen den unterschiedlichen Interessen. Das trägt ihr immer mal wieder den Vorwurf ein, auf der einen Seite zu wenig für den Wirtschaftsstandort Berlin zu werben und auf der anderen Seite zu wenig grüne Flanke zu zeigen. Der Kritik begegnet sie sachlich. Aufgeregtheit ist ihre Sache nicht.
Frau Bürgermeisterin, Sie waren zehn Jahre alt, als Sie 1988 aus Rumänien nach Deutschland kamen, ein Jahr später fiel die Mauer. Wie haben Sie das damals in Münster erlebt?
Münster war weit weg vom Geschehen. Viele haben nicht gemerkt, dass da etwas passiert, was ihr eigenes Leben tangieren wird. Aber unserer Familie war ziemlich schnell klar, dass es Auswirkungen auf Gesamteuropa haben würde. Konkret hat uns bewegt, was das für unsere Familie in Rumänien bedeutet.
Wie haben es Ihre Verwandten in Rumänien erlebt?
Es ging in Rumänien ja schnell und begann in der Stadt, in der ich geboren wurde, in Temeswar. Wir hatten noch Verwandte dort, mit denen wir regelmäßig telefonierten. Auch dann noch, als es unsicher war, ob es eine friedliche Revolution bleiben würde. Man hörte im Hintergrund Schüsse, und es wurde von Panzern gesprochen, die durch die Stadt fahren. Das Zittern, ob alles gut gehen wird, war greifbar.
Wenn Sie auf die Ereignisse von damals zurückblicken und auf das, was danach geschah – empfinden Sie so etwas wie Dankbarkeit?
Die Menschen haben damals eine gewaltige Umwälzung geschafft. Sie sind in Berlin, in Temeswar und allen Ostblockstaaten auf die Straße gegangen, um sich friedlich für Demokratie und Freiheit einzusetzen. Das ist unglaublich bewegend. Ich kenne noch die Realität der Teilung Europas, das Eingesperrtsein in Rumänien, die Härte der Kontrollen, und ich empfinde Dankbarkeit dafür, dass Menschen es sich zugetraut haben, Mauern einzureißen. Die Dankbarkeit gilt auch den Alliierten, die der deutschen Wiedervereinigung zugestimmt haben. Sie gilt der Tatsache, dass Berlin als Stadt wieder und neu zusammengewachsen ist. Es sind unglaublich viele Puzzleteile auf diesem Weg, wo Menschen richtig agiert haben. Natürlich sind auch Fehler gemacht worden. Es war ein Experiment, das es zuvor nie gegeben hatte: Wie macht man eigentlich so eine Wiedervereinigung? Es ist in vielen Teilen geglückt und an anderen Stellen leider nicht. Über diese Fehler wird heute zu Recht offen gesprochen.
Sind Sie durch Ihre Biografie als Banater Schwäbin, dann als Deutsche in der Bundesrepublik und schließlich als Berlinerin im vereinten Deutschland eine Art Expertin für Umbrüche geworden?
Heute bin ich Berlinerin und merke immer wieder, dass meine Biografie keine Seltenheit ist in Berlin. Berlin ist die Stadt, in der sich Menschen treffen und zusammen leben, die Umbrüche erfahren haben und etwas Neues anfangen in ihrem Leben. Vor allem deswegen fühle ich mich in Berlin sehr wohl.
Wie ist das, wenn man Umbrüche so hautnah erlebt hat? Geht man anders auf Herausforderungen zu?
Meine Erfahrung ist, dass es zwei Wege gibt, damit umzugehen. Es gibt diejenigen, die sagen: „Ich habe einen Umbruch erlebt und gesehen, dass daraus auch Gutes erwachsen kann, dass ich daraus stärker herausgekommen bin. Ich habe keine Angst vor Umbrüchen oder Veränderungen.“ Dann gibt es aber auch diejenigen, die daraus vielleicht nicht so stark hervorgegangen sind, die keinen so positiven Blick auf Veränderungen haben. Ich hatte das große Glück, durch eine gute Schulbildung und dadurch, dass ich die Sprache bereits konnte, sehr schnell in Deutschland anzukommen und neugierig sein zu können auf das, was mich erwartet. In Rumänien war nicht klar, ob ich mit meiner Biografie hätte Abitur machen oder gar studieren können. In Deutschland lag unglaublich viel offen vor mir. Wer hätte damals gedacht, dass das kleine Mädchen, das gerade aus Rumänien kommt, irgendwann mal in Berlin Bürgermeisterin wird.
Wenn Sie auf die vergangenen 30 Jahre schauen – was ist gut gelaufen, was ist schlecht gelaufen?
Ich bin ein Zahlenmensch, und wenn man sich die Zahlen anschaut, weisen sie viel auf der Habenseite auf, nicht nur was die wirtschaftliche Entwicklung angeht. Gerade in der Frage von Offenheit und Liberalität sind wir viel weiter. Das sah vor 10 oder 20 Jahren noch ganz anders aus. Oder denken Sie an Berlin in dieser Zeit: nahezu die höchste Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik, ein Wirtschaftswachstum unter null. Heute haben wir eine wirtschaftliche Dynamik, die deutlich über dem Bundesschnitt liegt mit jährlich 50 000 neuen und guten Arbeitsplätzen in der Stadt. Man könnte also sagen: Viel auf der Habenseite. Doch gibt es offensichtlich auf der emotionalen Seite Gefühle von Benachteiligung, von Nichtgehörtwerden und Nichtgesehenwerden. Damit müssen wir uns beschäftigen. Wie mit der Frage, was die Treuhand falsch gemacht hat, was heute als eine Ursache gesehen wird.
Wie schauen Sie auf die Arbeit der Treuhand?
Es gab damals keine Blaupause dafür. Verkürzt gesagt: Heute wissen wir, dass vieles falsch angepackt worden ist, vieles zu schnell und zu hart gegangen wurde. Da ist zu wenig Raum gewesen, um Unternehmen und Arbeitsplätze noch am Leben zu erhalten. Oder anstelle der knallharten Privatisierung, eher auf Instrumente wie Sanierung oder Management-Buy-outs – also Perspektive statt Abwicklung – zu setzen.
Was 1988 und 1989 passierte, war eine Zeitenwende. Heute stehen wir auf den vielfältigsten Gebieten wieder vor großen Umbrüchen. Eine neue Zeitenwende?
Was wir derzeit erleben, sind Transformationsprozesse, von denen viele das Gefühl haben, dass sie immer schneller werden. Gerade durch die Digitalisierung haben Innovationszyklen mittlerweile ein Tempo, mit dem man kaum mehr Schritt halten kann. Das sind die Verunsicherungen unserer Zeit. Wir in der Politik fragen uns, wie wir diese großen Fragen behandeln sollen, die ja alle Lebensbereiche tangieren. Nach einer Phase, in der eher neoliberal auf die Dinge geschaut wurde, wächst jetzt das Bewusstsein dafür, dass wir keine Gesellschaft sein wollen, in der es nur darauf ankommt, dass der Einzelne möglichst Stärke zeigt. Es gibt Dinge, die uns zusammenhalten als Gesellschaft und die wir bewahren müssen.
Als Senatorin für Wirtschaft sind Sie auch für den Wohlstand zuständig, der dort erwirtschaftet wird. Jetzt ist die Frage, wie man in der heutigen Zeit Wohlstand definiert. Die OECD hat elf Faktoren identifiziert, die ihn ausmachen. Dazu gehören Gesundheit, Work-Life-Balance, Bildung, Gemeinschaft, Engagement, Umweltsicherheit, Zufriedenheit und dann kommen erst die Klassiker wie Einkommen, Arbeiten und Wohnen. Ganz kurz gefragt: Wie steht es um den Wohlstand in Berlin, wenn man diese Kriterien zugrunde legt? Es wird ja stellenweise ganz schön ungemütlich.
Die wahrgenommene Ungemütlichkeit hat auch mit der schnellen Veränderung der Stadt zu tun. Berlin war durch die Teilung mehr oder weniger in einer Art Dornröschenschlaf. In den Neunzigerjahren ist viel Enttäuschung entstanden, weil viele gedacht haben: „Jetzt geht es richtig los.“ Doch dann kamen die bitteren Jahre mit der hohen Arbeitslosigkeit und dem Sparen. Heute ist Berlin eine wirtschaftlich erfolgreiche Stadt, ein Magnet für Menschen aus aller Welt. Ich wage die Prognose: Menschen gehen nicht dahin, wo es ihnen schlecht geht. In Berlin gehen Selbstbild und das Fremdbild manchmal auseinander. Nach 20 Jahren als Berlinerin weiß ich: Man meckert gerne über vieles, aber niemand würde hier wieder wegziehen. Wir sind alle glücklich und stolz darauf, hier zu leben.
Sie verschweigen den Unmut über Mietpreise, Nahverkehrschaos, Schul-Notstand…
Wir sprachen schon über die schnellen Veränderungen, die verunsichern. Die Menschen fragen sich völlig zu Recht, wo sie selbst an der wirtschaftlichen Dynamik der Stadt teilhaben. Wohlstand ist ja nicht der Wohlstand für Einzelne. In unserer sozialen Marktwirtschaft ist Wohlstand auch und gerade Teilhabe an der Gesellschaft. Ich muss mich in meiner Stadt wohl und sicher fühlen, ich muss schnell von A nach B kommen und brauche eine Umgebung, in der ich gerne lebe und meine Kinder aufwachsen lasse. Dazu gehören natürlich auch Bildung und Lebensqualität. Das sind alles Fragen, die uns bewegen. Gerade in einer wachsenden Stadt, in der es enger und ungemütlicher wird, kümmern wir uns um diese Dinge. Ob mit der Schulbauoffensive von 5,5 Milliarden oder mit den hohen Investitionen – rund 25 Milliarden Euro – in den öffentlichen Nahverkehr. Auch beim Thema Wohnen. Dort werbe ich sehr dafür, dass wir das Thema Neubau mit Lebensqualität verbinden. Die Stadt wächst, jetzt können wir die Weichen stellen, dass Berlin unser Berlin bleibt, trotz und gerade wegen dieser vielen Veränderungen. Damit Berlin keine weitere Metropole wird, in der die Berliner selber keinen Platz mehr haben zum Leben und zum Arbeiten.
Die Berliner Wirtschaft boomt und trotzdem äußern viele Unternehmer Unzufriedenheit. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Ich halte nichts davon, die eigene Stadt schlecht zu reden. Wir erleben eine Zeit der wirtschaftlichen Dynamik. Wir erleben, dass Unternehmen wieder nach Berlin ziehen, wie Siemens oder Sony, oder neu nach Berlin ziehen. Investoren fördern mit Milliardenbeträgen die Berliner Digitalwirtschaft. Und die moderne Industrie kommt mit Siemens zurück in die Stadt. Natürlich bedeutet das auch immer Wettbewerb für Unternehmen. Man findet eben nicht so leicht wie früher eine Fläche, um sich dort zu erweitern oder anzusiedeln. Da kommen eben auch die Reibungen einer wachsenden Stadt bei den Unternehmen an. Und darum kümmern wir uns.
Können Sie das genauer erklären?
Unternehmen, die nach Berlin kommen, wissen, wie der Standort im Jahr 2019 aussieht. Unternehmen, die schon länger hier sind, werden mit neuen Fragen konfrontiert, wie Gewerbe- und Flächenfragen und dass sie plötzlich um Fachkräfte kämpfen müssen, wo noch vor zehn Jahren die Abiturienten Schlange standen. Der Konkurrenzdruck wird für alle größer.
Um beim Thema Umbrüche zu bleiben: Man hat ein bisschen den Eindruck, dass Ihre Senatskollegin Regine Günther auf ihrem Feld wesentlich radikaler vorgeht, als Sie das tun. Kann man als Wirtschaftssenatorin nicht so radikal sein wie andere?
Was uns alle eint, ist die Erkenntnis, dass Städte sich verändern müssen in der Art, wie sie ihre Infrastruktur bereitstellen. Wir wollen den Berlinerinnen und Berlinern Teile des öffentlichen Raums wiedergeben und den Stadtraum endlich gerechter verteilen, mehr Platz für Fußgänger- und Fahrradverkehr schaffen, Mobilität intelligent vernetzen. Wir sehen es in allen europäischen Städten, dass Lebensqualität immer mehr bedeutet, freien Raum zu haben, jenseits von Autoverkehr.
Provokante Frage an die Wirtschaftssenatorin: Brauchen wir eigentlich noch mehr Wachstum?
Das ist eine Diskussion, die natürlich auch unter WirtschaftswissenschaftlerInnen geführt wird. Die vergangenen Zeiten mit fast 20 Prozent Arbeitslosigkeit wünscht sich niemand zurück. Wir sehen eben auch, dass ein Abflachen des Wachstums oder ein niedriges Wachstum nicht die Teilhabe organisiert und sichert, die wir uns wünschen. Die Frage ist für mich, auf welche Art wir eigentlich wachsen wollen. Wir müssen die Herausforderung stemmen, Wachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Die Frage des wirtschaftlichen Erfolgs verbindet sich mehr und mehr mit Klimaschutz. Hier geht es um Innovationen. Die schaffe ja nicht ich, die schaffen unsere Unternehmen, unsere Universitäten. Der Job der Politik ist es, die Rahmenbedingungen dafür zu setzen.
Die Diskussionen um den Google-Campus, das Amazon-Hochhaus oder die Enteignung von Wohnungskonzernen tragen Berlin immer wieder den Vorwurf der Investorenfeindlichkeit ein. Verstehen Sie das?
Berlin ist attraktiv für Investoren. Allein unsere Start-ups haben in der ersten Hälfte 2019 an Venture Capital über zwei Milliarden Euro angeworben. Ich selber habe mit sehr vielen Unternehmen gesprochen in den vergangenen Jahren, die alle nach Berlin wollten und die auch alle nach Berlin gekommen sind im Übrigen. Ich werbe dafür, dass unsere Stadt als Standort nicht kaputtgeredet wird – den Eindruck habe ich gelegentlich bei dem einen oder anderen. Gesellschaftlich gibt es aber auch eine Diskussion um die Verantwortung von Unternehmen, wie sie mit ihrem Umfeld umgehen. Berechtigte Themen, wie man sich einem Kiez öffnet, wenn man dorthin geht. Nicht als Ufo irgendwo zu landen, sondern sich als Teil der Stadt zu begreifen. Es reicht nicht, einmal im Jahr für Benefiz zu spenden und zu denken, damit hätte man seinem gesellschaftlichen Engagement Genüge getan.
Zur gesellschaftlichen Verantwortung gehören auch die Themen Parität und Diversität. Wie weit sind da die Unternehmen?
Also, ich erkenne, dass es viele Unternehmen gibt, die sich auf den Weg machen. Das finde ich gut, weil es nicht eine soziale Wohltat ist, die man damit als Unternehmen betreibt, sondern Diversität und Parität tragen essenziell zum wirtschaftlichen Erfolg bei.
Apropos Parität. Berlin hatte noch nie eine Regierende Bürgermeisterin. Wollen Sie 2021 die erste werden?
Ich gehöre nicht zu denen, die schon zwei Jahre vor einem Wahltermin den Wahlkampf ausrufen. Wir haben als Koalition zwar schon viel erreicht, aber auch noch viel vor. Die Berlinerinnen und Berliner werden entscheiden, wem sie ihre Stimme geben und in wen sie das meiste Vertrauen haben, die Stadt 2021 zu regieren.
Wie stellen Sie sich Deutschland und Berlin im Jahr 2029 vor?
Berlin ist nicht nur Hauptstadt, sondern auch Blaupause des modernen, weltoffenen und innovativen Deutschland. Menschen ziehen gerne zu uns und werden herzlich willkommen geheißen, egal, woher sie kommen und welche Biografie sie haben. Unsere Stadt wächst zusammen – grün und smart, wo viele Menschen gemeinsam Neues schaffen. Berliner meckern zwar gerne, aber immer wollen wir gemeinsam für Berlin nur das Beste.
Das Gespräch führte Elmar Jehn