Wir wollen keine Verhältnisse wie in London

© Wolf Lux @wolf_lux_photography

WELT: Frau Pop, wie geht es Ihnen nach den Wahlergebnissen von Sachsen und Brandenburg? Die Umfragen haben die Grünen ja durchaus stärker gesehen.

RAMONA POP: Wenn wir uns die absoluten Zahlen anschauen, haben wir uns verdoppelt. Wir müssen bedenken, wo wir herkommen: Früher mussten wir im Osten jedes Mal zittern, ob es für fünf Prozent reicht. Jetzt sind wir im Osten wirklich zuhause: Wir haben Direktmandate in Leipzig, Dresden und Potsdam gewonnen. Das war vor Jahren noch undenkbar. Dennoch sind meine Gefühle aufgrund der AfD-Ergebnisse gemischt.

WELT: Für eine Partei mit Ihren Ansprüchen war das doch sicher ein enttäuschendes Ergebnis.

POP: Unsere Zuwächse sind deutlich. Wir haben eine gute Basis gelegt und Regierungsperspektiven in beiden Bundesländern. Die Menschen glauben, dass wir die besten Antworten auf Fragen der Zukunft haben. Aus ihrem Vertrauen werden wir etwas machen. Für viele Wähler war es aber auch eine Vernunftentscheidung: Sie wollten nicht, dass die AfD stärkste Kraft wird und haben deshalb die Partei gewählt, die bereits den Ministerpräsidenten stellt. Das muss man als taktisches Wahlmanöver akzeptieren.

WELT: Zu welchen Koalitionen raten Sie ihren Kollegen?

POP: Da halte ich mich zurück. Wir stehen für einen glaubwürdigen Wandel, wollen Modernisierung, Klimaschutz und sozialen Zusammenhalt miteinander verbinden. Wenn das mit CDU und SPD umzusetzen ist, werden wir in Koalitionsverhandlungen einsteigen.

WELT: Dieses Wahlergebnis könnte auch für Berlin Folgen haben. Die Linkspartei, ihr Koalitionspartner, ist in beiden Bundesländern unter die Räder gekommen. Fürchten Sie um die Stabilität Ihrer Regierung?

POP: Die Linkspartei wird ihre Wahlergebnisse selbst aufarbeiten. Aber ja, ich mache mir Gedanken darüber, dass sie in Sachsen und Brandenburg deutlich verloren hat. Ich mache mir Sorgen, dass die Linke falsche Schlüsse zieht, die das Regieren miteinander nicht einfacher machen.

WELT: Wie einfach ist es denn momentan? Die Entwürfe, die von der Linkspartei zum Mietendeckel herausgekommen sind, haben für Unmut, bei manchen gar für Entsetzen, gesorgt.

POP: Es waren unfertige Vorentwürfe, die zu früh das Licht der Öffentlichkeit erblickt haben. Das war nicht hilfreich. Auch für die Regierungskoalition in Berlin nicht. Wir haben aber eine gute Gesprächskultur und in der vergangenen Woche nach intensiven Diskussionen eine Lösung für den Mietendeckel gefunden, der die Mieter vor Spekulationsexzessen schützt, aber auch verhältnismäßig ist.

WELT: Viele Vermieter fühlen sich im Stich gelassen. Ihnen werden die Einnahmemöglichkeiten beschnitten und gesagt, wenn es sie vor wirtschaftliche Probleme stellt, sollen Sie doch einen Härtefallantrag stellen.

POP: Ich rate jedem Vermieter, sich erst einmal anzuschauen, wie die Regelung genau ausgestaltet ist.

WELT: Und doch haben viele das Gefühl, dass diese Regierung gerade mit linksradikalen Ideen flirtet.

POP: Wir haben die Berliner Linkspartei im Vergleich zum Bund durchaus als eine pragmatische Regierungspartei erlebt.

WELT: Gegen die AfD, gegen Rechtsextremismus machen Sie sich doch auch stark – warum fällt Ihnen das links so schwer? Leute wie Andrej Holm haben erkennbar wenig Sympathien für das System. Die Linksjugend spricht auf Demonstrationen von „Schweinesystem“.

POP: Andrej Holm ist nicht mehr Staatssekretär. Das wurde – wie ich finde – richtig geklärt. Und ja, wir müssen politisch sehr stark aufpassen, dass nicht noch mehr Menschen beginnen, die Systemfrage zu stellen. Radikale linke Ideen lassen sich nicht vergleichen mit dem Rechtsextremismus, den wir etwa bei der AfD sehen. Der ist rassistisch, menschenverachtend, das geht bis ins Nazispektrum, wie wir es beim Brandenburger Spitzenkandidat gesehen haben. Und die AfD hat ein ungeklärtes Verhältnis zur Gewalt. Da verbittet sich ein Vergleich zur Linken.

WELT: Und was ist mit linker politischer Gewalt, Stichwort Rigaer Straße, brennende Autos ect?

Pop: Gewalt ist kein Mittel der politischen Auseinandersetzung, ob durch Rechts oder eben Links. Ich verurteile jegliche Gewalt auf das Schärfste

WELT: Aber verstehen Sie Menschen, die vielleicht gut verdienen, die sich etwas erarbeitet haben und für die die ständige Verstaatlichungsrhetorik auch ein konkreter Grund zur Sorge sind?

POP: Wir haben eine soziale Marktwirtschaft. Dazu stehe ich und ich möchte, dass das so bleibt. Die Akzeptanz für die Marktwirtschaft gerät jedoch ins Wanken, wenn das Soziale nicht mehr erkennbar ist, wie auf dem Wohnungsmarkt. Die Menschen in Berlin haben in den letzten Jahren Exzesse auf dem Mietenmarkt erlebt, die man mit der guten wirtschaftlichen Entwicklung nicht mehr erklären kann und gegen die es vorzugehen gilt. Wir erleben in allen Bereichen Angriffe auf die Gefüge unserer Gesellschaft. Deshalb schützen wir die Berliner, die Angst haben, sich ihre Wohnung nicht mehr leisten zu können.

WELT: Wieso bebaut man dann nicht zum Beispiel das Tempelhofer Feld?

POP: Die Regierung baut weit mehr als die Regierung zuvor.

WELT: 15.000 Wohnungen im Jahr – das ist im Vergleich noch immer recht dürftig. Und doch der Kern des Problems.

POP: Wir müssen da schneller werden. Unter Sarrazin galt das Motto: Jeder Mitarbeiter, der kein Geld ausgibt, ist ein guter Mitarbeiter. Das hat sich als Kultur in unserer Verwaltung tief eingebrannt. Wir müssen wieder auf Investitionen umsteuern. Da sind wir nicht schnell genug. Aber wir müssen auch regulieren: Menschen, die über dreißig Prozent ihres Einkommens für Miete bezahlen müssen, brauchen ein Werkzeug, was sie davor schützt.

WELT: Oder sie ziehen nach Brandenburg. In 40 Minuten sind sie mit den Öffentlichen Verkehrsmitteln in der Stadt. Ist es nicht eine luxuriöse Anspruchshaltung zu glauben, dass jeder für wenig Geld im Zentrum leben kann?

POP: Wir wollen in Berlin keine Verhältnisse wie in London. Dort können sich wirklich nur noch die Reichen eine Wohnung in der Stadt leisten, die Krankenschwester pendelt aus Südengland zwei Stunden zur Arbeit in die Stadt rein. Das Gefühl, das viele Menschen in London haben – abgehängt zu sein, keinen Platz mehr zu haben in der Stadt – führt zu politischen Ausschlägen wie dem Brexit. Und das wollen wir hier nicht erleben.

WELT: Nochmal zum Tempelhofer Feld – was ist mit diesen Flächen? Wie erklären Sie den Menschen, die doch auch nur das Funktionieren dieser Stadt im Sinn haben, dass dort lieber Rollerblading stattfinden soll? Das macht doch keinen Sinn.

POP: Wir haben in Berlin als Senat 14 Wohnungsbaugebiete ausgewiesen. Ich bin glücklich, wenn wir es schaffen, diese Projekte zeitig fertigzustellen und damit die Zielzahlen erreichen, die wir uns gesetzt haben. Eins nach dem anderen. Dann können wir über alles weitere diskutieren.

WELT: Mehrere Experten haben zuletzt gewarnt, dass in Berlin eine Stimmung herrsche, die investitionsschädigend sei – und sogar zu einer Krise führen könnte.

POP: Die Zahlen zeigen doch das Gegenteil. Wir haben eine unglaublich gute Wirtschaftsdynamik, schließen jeden Tag in der Stadt eine Wunde, die Krieg oder Teilung dieser Stadt zugefügt hat. Berlin befindet sich in einem wahnsinnigen Aufholprozess. Das ist wichtig für die Stadt. Zwei Drittel des Wagniskapitals in Deutschland fließen nach Berlin. Es entstehen neue und gute Arbeitsplätze. Wir wollen, dass hier weiter investiert wird.

WELT: In Kreuzberg will Ihr Kollege Florian Schmidt Investitionen in das historische Karstadt-Kaufhaus am Hermannplatz verhindern.

POP: Hier bin ich anderer Meinung als Florian Schmidt. Wir wissen, dass das klassische Warenkaufhaus keine Zukunft mehr hat. Und bevor es da zu Leerstand kommt, würde ich gerne darüber sprechen, was dort Neues entstehen kann – auch mit Blick auf bezahlbaren Wohnraum und sozialen Einrichtungen wie Kita und Bibliothek. Der Investor hat Gesprächsbereitschaft signalisiert. Ich wünsche mir, dass der Bezirk in die Diskussion einsteigt, weil das auch für Kreuzberg und Neukölln Chancen eröffnet.

WELT: Mobilität – die andere große Herausforderung in Berlin. Warum sehen wir noch immer überall parkende Autos und weiter kaum vernünftige, sichere Radwege?

POP: Einige glauben immer noch, das Thema sei irgendwie eine grüne Spinnerei – aber überall nimmt das Fahrrad eine immer wichtigere Rolle ein. Und es verändert sich mit den Grünen in der Landesregierung schon viel. Berlin wurde jahrzehntelang auf eine autofreundliche Stadt getrimmt, für Fahrradfahrer wurde nichts getan. Jetzt sind wir dabei, Fahrradinfrastruktur aufzubauen. Das geht nicht innerhalb von drei Jahren, schon, weil die Ausschreibungsprozesse so lange dauern. Aber es passiert und da kommt auch noch mehr.

WELT: Um dem Fahrrad mehr Raum zu geben, müssen sie diesem jemand anderem wegnehmen.

POP: Das ist eine emotionale Diskussion. Ich bin für einen Interessensausgleich. Wir müssen künftig den öffentlichen Raum fairer verteilen.

WELT: Was heißt das konkret, zum Beispiel beim Thema Parken? Reicht es nicht, wenn Autos auf der einen Seite der Straße parken können und die andere für Fahrräder verwendet wird?

POP: Hierfür gibt es marktwirtschaftliche Instrumente: Parken muss einen deutlich höheren Preis haben, weil es anderen Platz wegnimmt. Das ist in allen Städten dieser Welt so.

WELT: Reicht Ihnen das? Radikal gedacht: Was halten Sie von der Idee, alle Autos aus dem Zentrum zu verbannen?

POP: Für Autos wird es in den Städten enger. Fußgänger und Fahrradfahrer müssen sicher von A nach B kommen. Und es wird teurer, mit dem Auto in die Stadt zu fahren. Eine Innenstadt-Maut wie in London ist eine Idee, bei der sich jedoch Datenschutzfragen stellen. Es kann nicht sein, dass Autos acht Stunden lang unbewegt mitten in der Stadt stehen und Platz beanspruchen. Und dann regen sich manche über so einen Mini-Tretroller auf…

WELT: Diese Ideen sind das eine. Das andere ist die immer weiter zunehmende Zahl der Fahrradfahrer, die in Berlin bei Unfällen verletzt wird oder stirbt.

POP: Und das muss sich unbedingt ändern – durch eine bessere Infrastruktur und durch andere Maßnahmen. Wir haben ein Förderprogramm für Lkw-Abbiegeassistenten auf den Weg gebracht. Dass der Bund nicht endlich dafür sorgt, dass diese verpflichtend werden, ist in meinen Augen ein Skandal.

WELT: Muss der Öffentliche Nahverkehr kostenlos sein?

POP: Seitdem wir regieren, fahren viele günstiger BVG, Schüler bereits kostenlos. Wir unternehmen weitere Schritte hin zu einer Tarifstruktur, die gerechter und sozialer ist. Aber man darf auch nicht vergessen: Wir haben einen riesigen Nachholbedarf bei den Investitionen. In Hamburg sind die U-Bahnen dreizehn bis vierzehn Jahre alt, in Berlin dreißig bis vierzig Jahre. Das ist desolat und macht klar, was hier in der Vergangenheit versäumt wurde. Wir investieren in den nächsten 15 Jahren über 28 Milliarden in unseren Nahverkehr, das ist eine Verdopplung der bisherigen Investitionen.

WELT: Vielen Dank. Eine letzte Frage: Würden sie eine rot-rot-grüne Regierung auch im Bund befürworten?

POP: Das überlasse ich den Kollegen im Bund. In Berlin haben wir seit Jahren eine gute Zustimmung für diese Koalition – in anderen Bundesländern und auf Bundesebene gibt es andere Konstellationen. Das müssen wir berücksichtigen.

Erschienen in der WELT vom 6. September 2019
Das Interview führten Ulf Poschardt und Lennart Pfahler