Rede von Ramona Pop, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin, zur Regierungserklärung des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller zur Flüchtlingspolitik am 12. November 2015:
Herr Regierender Bürgermeister: Eine Regierungserklärung Ihrerseits zur Flüchtlingspolitik war längst überfällig.
Wenn auch alle Städte, Gemeinden und Kommunen in Deutschland vor der großen Herausforderung der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen stehen – so sind es die täglichen Erlebnisse, Bilder und Nachrichten aus unserer Stadt, die zeigen, dass statt kraftvollem Krisenmanagement in Berlin zuviel Chaos und Planlosigkeit herrschen.
Die Bilder von der Situation am Lageso gingen und gehen um die Welt. Das Lageso ist inzwischen zum Inbegriff für katastrophale Flüchtlingsversorgung geworden. In der Abendschau war zu sehen, dass noch immer Familien mit kleinen Kindern bis spätnachts am Lageso darauf warten, eine Unterkunft für die Nacht zu bekommen. Man fragt sich schon, ob das die Hauptstadt Deutschlands ist, in der Familien mit kleinen Kindern nachts draußen in der Kälte schlafen müssen? Ich schäme mich zutiefst dafür.
Und es ist keine Frage des Geldes!
Es gibt eine deutliche finanzielle Entlastung durch den Bund. Die unverändert gute wirtschaftliche Lage in Deutschland und auch in Berlin trägt ebenfalls zu den gut gefüllten öffentlichen Kassen bei. Und die meisten Wirtschaftsforscher prognostizieren uns weiter eine gute wirtschaftliche Dynamik und zwar wegen und nicht trotz der Flüchtlinge! Das kann nicht deutlich genug gesagt werden, insbesondere in Richtung derer, die auf dem Rücken der geflüchteten Menschen ihre widerwärtige Politik machen und Ängste schüren.
Es ist also keine Frage des Geldes, dass der Berliner Senat im Vergleich zu vielen anderen Städten von München bis Hamburg das Krisenmanagement kaum hinbekommt. Vieles von dem, was wir erleben, ist hausgemacht! Jetzt rächt sich, dass der Sozialsenator sich nicht wirklich für Soziales interessiert, Beispiele hierfür gibt es nicht nur in der Flüchtlingspolitik. Schlimmer noch, dieser Senat lässt seit Monaten die Dinge schlicht laufen, statt aktiv zu handeln.
Was wir brauchen, ist eine tatkräftige Berliner Politik, die anpackend und konstruktiv ist, die Abläufe gut organisiert und das Chaos bitte nicht weiter vergrößert.
Da haben die letzten Wochen wenig Grund zur Hoffnung auf eine Verbesserung gegeben:
- Die Gesundheitsversorgung am Lageso und nicht nur dort, ist bis heute ein Drama
- Die Eröffnung der Bundesallee sollte das Lageso deutlich entlasten. Doch statt der 1000 Registrierungen, die dort täglich stattfinden sollten, sind es nicht mal 200, weil die Organisation nicht funktioniert.
- Das aktuellste Beispiel ist die Unterbringung von Flüchtlingen in einer Polizeisporthalle, wo sich plötzlich die Polizei selber als Betreiber einer Flüchtlingsunterkunft wiederfand, weil die Sozialverwaltung keinen Betreiber organisiert hatte. Die Gewerkschaft der Polizei hat gestern einen Brandbrief an den Innensenator geschrieben und das völlig zu Recht!
- An anderer Stelle fordert der Senat markig, dass der Bund Immobilien zur Verfügung stellt – dabei ist die Liste längst da, aber wird nicht genutzt.
- Das gleiche gilt für die Bezirke, die oft genug Vorschläge für Unterbringungskapazitäten machen, die meisten bleiben unbeantwortet, oder werden pauschal verworfen.
Was ich an Ihrer Regierungserklärung deutlich vermisst habe, Herr Regierender Bürgermeister, waren konkrete Lösungen und Maßnahmen.
Baden-Württemberg hat beispielsweise 250 neue Stellen in Erstaufnahmeeinrichtungen geschaffen. Davon kann das Lageso nur träumen, wo die MitarbeiterInnen völlig überlastet ackern. Ebenso werden in Baden-Württemberg Sozialarbeiter für Flüchtlingsarbeit in den Unterkünften und für die Kommunen eingestellt. Bei uns müssen Unterkünfte um einzelne Integrationslotsen betteln.
Auch der Aufbau lokaler Bündnisse für Flüchtlingsarbeit wird finanziell unterstützt, davon könnte man sich was abschauen.
Wir müssen uns auch fragen, ob wir immer mehr Turnhallen belegen und dann den Sportunterricht ausfallen lassen oder lieber Möglichkeiten schaffen, leerstehende Gewerbe- und Bürogebäude nutzen? Wir finden letzteres richtig – zeitlich begrenzt und gegen eine angemessene Entschädigung. So wie das der Senat in der Bundesallee gemacht hat. Für solche dringenden Notfälle wollen wir Rechtssicherheit schaffen und bringen heute eine Gesetzesänderung zum ASOG ein. Eine Änderung, die in Hamburg bereits umgesetzt wird.
Herr Regierender Bürgermeister, weniger Selbstlob, dafür mehr Konkretes hätte ich heute erwartet!
Auch diejenigen, die seit Monaten freiwillig helfen als Ehrenamtliche überall in der Stadt. Auch sie fordern Verbesserungen der Organisation und in der Kommunikation ein.
Die HelferInnen und Helfer werden nicht müde zu helfen. Ihnen gilt unser aller Dank, ohne sie würde schlicht und einfach nichts laufen. Wir sind alle unendlich dankbar dafür, sie leisten wertvolle Arbeit. Und der beständige Kontakt von Geflüchteten und HelferInnen und Helfern ist auch Integration, hier lernt man sich kennen, hier werden Bande geknüpft, Sprache gelernt und so vieles mehr.
Die überwältigende Hilfsbereitschaft, die sich quer durch alle gesellschaftlichen Schichten, quer durch die Stadt von Westend bis Hellersdorf, von Reinickendorf bis Treptow hier zeigt – macht vor allem eines deutlich:
Berlin steht zusammen und diejenigen, die Hass und Menschenverachtung säen wollen, haben in Berlin keinen Platz!
Diese Klarheit vermisse ich in der Bundespolitik zunehmend. Wir wissen alle um die Herausforderung, niemand leugnet diese. Aber gerade in schwierigen Zeiten und in Krisensituationen sollten wir uns auf das besinnen, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Und das ist an erster Stelle unsere Verfassung, unser Grundgesetz.
Grundrechte – wie das Grundrecht auf Asyl – sind nicht nur für gute Zeiten und Sonntagsreden gedacht, sie haben ihren Bestand auch und gerade in Krisenzeiten.
Dies scheinen einige aus dem Blick verloren zu haben, insbesondere wenn man Richtung Bundespolitik schaut. Der Innenminister überfällt uns und seine Regierungskoalition täglich mit neuen Vorschlägen zur Abschreckung von Flüchtlingen und Aushöhlung von Grundrechten.
Ob er die Dublin-Verordnung durch die Hintertür wieder einführt. Oder der schäbige Vorschlag, den Schutzstatus für Flüchtlinge aus Syrien zu verschlechtern. Oder die Idee zur Beschränkung des Familiennachzugs.
Zu dieser CDU/CSU kann man nur sagen:
Christlich ist das nicht
Sozial auch nicht
Und bei der Zerstrittenheit kann man nur feststellen: das ist auch alles andere als eine Union!
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Vor einigen Tagen haben wir den 9. November begangen. Und es war unerträglich zu sehen, wie am 9. November 2015 Bärgida und andere Rechte mit Reichsfahnen und Reichskriegsflaggen an der Synagoge in der Rykestraße vorbeigezogen sind.
Der 9. November erinnert an dunkle Stunden und die Reichspogromnacht 1938. Aber auch an den Glücksmoment des Mauerfalls 1989.
Nicht nur anlässlich dieses Datums fragen wir uns, wie wir heute mit dieser größten Herausforderung seit der Wiedervereinigung umgehen wollen und umgehen können.
Und es ist vielleicht kein Zufall, dass diejenigen, die wie die Kanzlerin, oder wie der Bundespräsident, die in ihrem Leben bereits eine tiefgreifende Veränderung erlebt haben – diese Herausforderung mit Mut und optimistischer Entschlossenheit angehen. Die Angst vor Veränderung ist offensichtlich bei denjenigen geringer, die selber gravierende Lebensumbrüche erlebt haben und gestalten konnten und für sich gesehen haben, es ist gut geworden – das sind diejenigen, die heute mit Offenheit und Tatkraft anderen Mut machen: „Wir schaffen das“.
Das gilt auch für unzählige Migrantinnen und Migranten: „Wir schaffen das.“
Da kann ich meine eigene Lebensgeschichte zurate ziehen. Ich kam 1988 in ein Land, was in Sachen Integration nicht besonders geübt war. Es war spürbar, trotz guter Sprachkenntnisse, dass ich nicht dazugehörte. Der Satz „Integration ist mehr als nur ein Sprachkurs“ stimmt absolut, das kann ich Ihnen aus eigenem Erleben sagen.
Wir sollten alle miteinander klug genug sein, nicht die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Nicht zu versäumen, frühzeitig mit Integration, mit Teilhabe und Partizipation zu beginnen. Dazu gehört, die Realität anzuerkennen, dass viele der Menschen, die zu uns kommen, auch dauerhaft hier bleiben werden.
Und sie werden sich verändern, wir alle miteinander werden uns verändern. Weil das so ist in offenen Gesellschaften, und weil das gut so ist. Wer auch immer einem vorgaukelt, nichts würde sich ändern oder ändern dürfen, lebt nicht in dieser Welt.
Eingefrorene Gesellschaften gibt es nur hinter Mauern und in totalitären Systemen.
Volker Zastrow hat es in der FAZ treffend kommentiert: „In modernen Staatswesen findet ein unaufhörlicher Veränderungsprozess statt. Sie sind offen, weil sich technologische, ökonomische und soziale Entwicklung, also der Fortschritt, nur in geschlossenen Systemen verhindern lässt.“
Wir haben die Verantwortung, die Veränderungen zu gestalten.
Heute heißt die größte Herausforderung, aber auch Chance „Integration“. Dabei sind alle gefordert: Politik, Gesellschaft, Migranten.
Es geht um Integration auf dem Wohnungsmarkt, in Bildung, Arbeit und Rechtsordnung.
Gerade bei letzterem möchte ich den Blick 25-26 Jahre zurückrichten. Wenn Menschen vor Diktaturen und Unterdrückung fliehen und in Freiheit und Sicherheit leben und ihre Kinder aufwachsen sehen wollen. Ja, auch wenn das Menschen sind, die Demokratie und Rechtsstaat vielleicht nicht aus eigener Anschauung kennen, weil sie diese in ihrem bisherigen Leben nicht erlebt haben. Doch sie haben gesehen, jeden Tag erfahren, was Diktatur, was Unfreiheit, was fehlende Rechtssicherheit bedeuten. Deshalb fliehen sie ja aus ihrer Heimat. Warum sollten wir also nicht glauben, dass sie sich von Demokratie, Freiheit und Recht begeistern lassen? Integration ist eben mehr als ein Sprachkurs…
Wir freuen uns seit Jahren, dass Berlin sich großer Beliebtheit erfreut, dass Menschen zu uns ziehen, dass die Stadt wächst. Darauf muss die Politik angemessen reagieren. Das gilt auch für die rund 50.000 Flüchtlinge, die in diesem Jahr zu uns gekommen sind. Heute reden wir noch über winterfeste Notunterkünfte und Erstaufnahmeplätze. Aber bald schon geht es um Wohnungen, bezahlbare Wohnungen für Flüchtlinge, aber auch für diejenigen, die sonst neu ankommen. Es geht um bezahlbare Wohnungen für unsere Stadt. Heute machen wir mit dem Wohnraumgesetz einen ersten Schritt, aber damit sind die Probleme des Berliner Wohnungsmarktes wahrlich nicht auf einen Streich gelöst.
Wenn Sprache der Schlüssel zur Integration ist, dann müssen wir unsere Anstrengungen darauf richten. Und zynisch finde ich hier alle Vorschläge, die die Kosten der Sprachkurse mit dem Lebensunterhalt verrechnen wollen. Wollen wir Menschen ernsthaft vor die Wahl „Sprache lernen, oder Nahrungsmittel kaufen“ stellen? Das schlagen diejenigen vor, die hinterher am meisten über fehlende Integration klagen. Das ist sowas von bigott.
Wir brauchen stattdessen Sprachförderung an Kitas, Willkommensklassen in Schulen und möglichst frühzeitige Beschulung der unbegleiteten Minderjährigen.
Der Integrationsmotor schlechthin ist die Möglichkeit zu arbeiten, selber den Lebensunterhalt zu verdienen. Und viele Wirtschaftswissenschaftler sehen die Flüchtlinge als positiv für unseren demographisch sich verändernden Arbeitsmarkt. Ich weiß um die Unterstützung vieler Betriebe, Landesunternehmen und Verbände, was dieses Thema angeht. Wir wissen aber auch, dass wir eigene Arbeitsmarktprogramme auflegen müssen, dass wir die Berufsqualifikationen frühzeitig erheben müssen und vieles mehr. In diesem bedeutenden Politikfeld gibt es bislang nichts außer Papiertiger, hier muss dringend nachgearbeitet werden. Wir werden hierzu als Fraktion bald einen Vorschlag vorlegen.
Wir müssen das eine tun, was in der täglichen Notsituation zu tun ist, ohne das andere, die Integration zu lassen. Diese doppelte Herausforderung ist zu meistern – damit es gelingt!
Wie einige hier im Raum, habe ich selbst eine Zuwanderungsgeschichte, eine europäische Ost-West-Geschichte. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus weiß ich um die Schwierigkeiten, aber auch um die Chancen und Möglichkeiten.
Es gibt viel zu tun. Lassen Sie uns das tun, was wirklich hilft.
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