Plenarrede von Ramona Pop, Fraktionsvorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, zur Aktuellen Stunde „Berlin hilft den Flüchtlingen: Für ein menschliches, weltoffenes und demokratisches Berlin“ in der Plenarsitzung am 10.09.2015:
Die ersten Flüchtlinge aus Ungarn sind Sonntag Nacht in Berlin eingetroffen. Es waren die ersten von vielen mehr, die noch kommen. Die Bilder aus Budapest, aus dem überfüllten Bahnhof, haben mich persönlich sehr bewegt. Ich kenne diesen Bahnhof. Ich kenne diesen Weg. Im Jahr 1988 bin ich mit meiner Familie über Budapest und Wien mit dem Zug nach Deutschland gekommen, ich war damals 10 Jahre alt.
Ich kenne noch das Europa von Mauern, Grenzzäunen und Schlagbäumen, auf die man hoffnungsvoll blickte, dass sie sich endlich öffnen. Dieses geteilte und feindselige Europa, das haben wir hinter uns gelassen – und das soll auch der Vergangenheit angehören!
Im letzten November haben wir den Fall der Berliner Mauer und das Ende der Teilung unserer Stadt gefeiert. Was hier in Berlin mit der Friedlichen Revolution und dem Fall der Mauer begonnen hat, führte zur Wiedervereinigung nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas.
Vor dem Hintergrund meiner eigenen Lebensgeschichte ist mit die Europäische Union, die europäische Wertegemeinschaft, die auf Freiheit und Menschenrechte gründet, ein Herzensanliegen. Umso bitterer, dass Ungarn, – das Land, das als erstes den Eisernen Vorhang durchtrennt hat – dass Ungarn heute neue Grenzzäune baut.
Wir müssen unser europäisches Versprechen von Frieden und Freiheit und Menschenrechten immer wieder neu mit Leben füllen – auch in solch schwierigen Situationen wie aktuell. Diese Bewährungsprobe für Europa wird nur gelingen, wenn alle Mitgliedsstaaten ihrer Verantwortung gerecht werden. Und ich stimme ausdrücklich dem Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx, zu, der kürzlich appellierte: „Wir müssen alles tun, um das Sterben an Europas Grenzen zu beenden.“
Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht, wie noch nie. Wir kennen die Ursachen und sehen die Bilder: Die furchtbaren Bürgerkriege in Syrien, Afghanistan oder Irak, der untergehende arabische Frühling – das alles findet in einer globalisierten Welt nicht mehr am anderen Ende der Welt statt.
Die Auswirkungen sind auch bei uns zu spüren, vor allem durch die Menschen, die auf der Flucht vor Krieg, Gewalt, Unterdrückung und Verfolgung sind. Diese Menschen kämpfen um ihr Überleben, sie haben alles verloren, viele alles gegeben, um der Hölle in ihrer Heimat zu entkommen.
Und Berlin hilft. Weil wir es wollen, weil wir es müssen, und weil wir es können.
Wir alle erleben die überwältigende Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung, unermüdlich sind die Helferinnen und Helfer unterwegs, am LaGeSo, in Wilmersdorf, in Hellersdorf, Reinickendorf und an vielen anderen Stellen in unserer Stadt. Ihnen möchte ich DANKE sagen, Danke für die Hilfe und den Einsatz für Menschen in Not.
Noch nie haben so viele Menschen geholfen, gespendet, mit angepackt – für Flüchtlinge. Das ist das Gesicht Deutschlands, das ist das wahre Gesicht unserer Stadt. Nicht diejenigen, die dumpfe Parolen und Schimpfwörter kreischen. Jeden Tag zeigen tausende Menschen eindrucksvoll, dass unser Land, unsere Stadt, Flüchtlinge willkommen heißt.
Aber Engagement kann und darf nicht dauerhaft staatliche Strukturen ersetzen, weil der Staat die Situation nicht in den Griff bekommt. Ich finde es beschämend, welche Bilder von den Zuständen am LaGeSo in die Welt hinausgingen. Bilder davon, dass in der Hauptstadt Deutschlands über Wochen Menschen im Freien, nur notdürftig mit Essen und Trinken versorgt, medizinisch kaum betreut, ausharren, ausharren müssen – das finde ich beschämend.
Mehr Personal, dezentrale Stellen für die Erstaufnahme und eine Software, die nicht mehrmals die Woche um 16 Uhr vom ITDZ abgeschaltet wird – das alles würde doch schon helfen. Auch die lang angekündigte Einführung der Gesundheitskarte würde die Gesundheitsversorgung für die Flüchtlinge erheblich verbessern und das Personal im LaGeSo deutlich entlasten. Denn wir wissen, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bis zur Erschöpfung und darüber hinaus arbeiten, ihnen sagen wir auch DANKE!
Der Senat hat vor einigen Wochen ein Flüchtlingskonzept verabschiedet. Man kann als Opposition sagen, dass uns das nicht weit genug geht. Wir erwarten aber, dass der Senat wenigstens seinen eigenen Beschluss ernst nimmt und beispielsweise das Studieren für Flüchtlinge ermöglicht, wie es im Senatsbeschluss auch steht.
Denn wir wollen doch hoffentlich alle, dass die Integration der Menschen, die zu uns kommen, möglichst schnell gelingt!
Langsam kommt es bei allen an, dass es sich nicht um ein vorübergehendes Phänomen handelt, sondern dass Menschen zu uns kommen, die hier bleiben und wir miteinander vor einer großen Aufgabe stehen.
Unsere Geschichte ist reich an Migrationsbewegungen, Deutschland und Berlin waren immer schon von Flucht, Einwanderung und Vermischung geprägt. Das zerbombte Deutschland nahm 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene auf. Das deutsche Wirtschaftswunder wäre undenkbar ohne die Arbeitsleistung der sog. Gastarbeiter, aus dem Süden Europas und aus der Türkei. Die dreieinhalb Millionen Spätaussiedler, zu denen auch meine Familie und ich gehörten. Oder die Hunderttausenden, die während des jugoslawischen „Zerfallskrieges“ nach Deutschland flüchteten.
Nun sind es die Flüchtlinge aus den Kriegen des Mittleren und Nahen Ostens, die sich auf die beschwerliche und gefährliche lange Reise nach Europa und Deutschland begeben.
Wir sehen mit großer Sorge, dass einige die Situation und auch die Zahlen ausnutzen, um ihr fremdenfeindliches und rassistisches Gedankengut zu verbreiten.
Es gibt sie, die unsere Demokratie und Freiheit, die die Menschenrechte und die Würde des Einzelnen verachten und ablehnen;
es gibt sie, die Rassismus und Menschenfeindlichkeit propagieren, Gewalt predigen und auch ausüben;
sie wollen unsere Gesellschaft und unser Miteinander, unsere Vielfalt und Individualität, unsere Menschlichkeit zerstören.
Vorgestern wieder gab es einen Anschlag auf eine Unterkunft in Marzahn, welch eine abscheuliche Tat. Gemeinsam erteilen wir Hass und Menschenfeindlichkeit eine deutliche Absage!
Lassen Sie uns gemeinsam deutlich machen: Jetzt ist die Stunde der Pragmatiker, nicht der Panikmacher.
Wir alle sind in der Verantwortung, echte Lösungen statt Symbolpolitik zu präsentieren. Wir alle sind in der Verantwortung, auf unsere Worte zu achten und nicht leichtfertig damit umzugehen.
Es sei allen, die sich darüber echauffieren, dass da welche für 140 Euro Taschengeld nach Deutschland kommen, mal angeraten in sich zu gehen. Wer verlässt schon seine Heimat und welche Verzweiflung muss einen antreiben, dass man diesen schweren und gefährlichen Weg auf sich und seine Familie nimmt – vor diesem Hintergrund ist diese Diskussion schlicht unwürdig!
Wir müssen das tun, was wirklich hilft.
Die Aufnahme, Versorgung und Integration ist eine nationale Aufgabe. Wir wissen, dass Hilfsorganisationen wie Malteser, THW und Johanniter, aber auch die Kirchen mit ihren Organisationen unschätzbar wichtige Arbeit leisten. Ihnen gilt unser Dank!
Wir brauchen einen Flüchtlingspakt, der alle gesellschaftlichen Kräfte bündelt – endlich hat die Bundesregierung diese Verantwortung auch anerkannt.
Der Bund muss sich dauerhaft strukturell an den Kosten für die Versorgung von Flüchtlingen beteiligen und die Mittel für die soziale Wohnungsbauförderung erhöhen. Wir brauchen ein Bauprogramm für bezahlbare Wohnungen für Flüchtlinge, aber auch für Menschen, die heute schon auf Sozialwohnungen angewiesen sind.
Schnellere Verfahren sagen alle, aber wenn man sich anschaut, dass beim Nadelöhr BAMF 250.000 Anträge auf Bearbeitung warten und die Bearbeitungsdauer bei 5,5 Monaten liegt – dann ist da noch viel zu tun, wie bspw. die sinnlosen Widerrufsverfahren zu streichen und Altfallregelungen schaffen.
Wir müssen die Asylverfahren wirksam entlasten, die Zuwanderung über das Asylsystem verantwortbar begrenzen und endlich Alternativen für eine geregelte Einwanderung nach Deutschland vor allem für diejenigen schaffen, die mit dem Ziel der Arbeitsaufnahme nach Deutschland kommen, aber mangels rechtlicher Alternativen bislang den Weg des Asylantrags gehen.
Es braucht legale Wege nach Europa und nach Deutschland. Wir brauchen dringend ein Einwanderungsgesetz, das Arbeitsmigration ermöglicht.
Und es dürfen nicht die Fehler der letzten Jahrzehnte wiederholt werden, die bei den sog. Gastarbeitern, oder auch bei den Flüchtlingen, die schon lange hier leben, gemacht worden sind:
Wir brauchen stattdessen eine gute Integrationspolitik von Anfang an! Dazu gehört, die Realität anzuerkennen, dass viele der Menschen, die zu uns kommen, auch dauerhaft hier bleiben werden.
Auch wenn wir aufgrund der täglich neuen Zahlen die Unterbringung stark im Fokus steht, darf die Integration in Kita, Schule, Studium, Ausbildung und Arbeit nicht aus den Augen geraten. Niemals wieder sollten wir davon ausgehen, dass die „Leute“ schon wieder gehen würden, wie damals bei den „Gastarbeitern“.
Viele werden bleiben. Kümmern wir uns früh, dass sie es auch können und hier nicht nur ihren Platz finden, sondern ihr Zuhause, eine neue Heimat.
Dennoch, da gibt es nichts schön zu reden: Wir stehen vor einer der größten Herausforderungen, die wir erlebt haben und es wird Anstrengung kosten und nicht immer einfach sein. Heribert Prantl schrieb weitsichtig: „Das Flüchtlingsproblem ist nicht nur ein Problem des Sommers 2015; es ist DAS Problem des 21. Jahrhunderts.“ Er hat wohl recht.
Es gibt unglaublich viel zu tun. Aber ich bin optimistisch, dass wir es gemeinsam schaffen. Einwanderung muss gestaltet werden, damit aus den Flüchtlingen von heute Nachbarn, Kollegen, Sportkameraden und Freunde werden.
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